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Die Flüchtlingstragödie
und das
Zugunglück am 22./23. Januar 1945 bei
Grünhagen
im Kreis Preußisch-Holland in Ostpreußen
Stand vom 1. Oktober 2005 mit
Ergänzungen vom 30. September 2008 18.
Juni 2005
Das Zugunglück bei Grünhagen liegt heute 60 Jahre zurück. Es ist daher nicht unproblematisch, selbst Erlebtes nach so langer Zeit richtig wieder zu geben. Die damaligen Geschehnisse habe ich selbst als fast 8jähriger erlebt und erst 2001 aus der Erinnerung aufgeschrieben und darüber in der Osteroder Zeitung ausführlich berichtet.[1] Auf Grund der mir daraufhin zugegangenen Anrufe und Berichte wurde ich angeregt, mich mit der damaligen Tragödie näher zu befassen. Diese Tragödie hatte zwar nicht die Ausmaße der Großkatastrophen wie die der Flüchtlingsschiffe „Wilhelm Gustloff“ und „Goya“, war aber für die Betroffenen ebenso schrecklich. Über das Zugunglück erschienen in den Heimatblättern nur einige Berichte. Obwohl eine vollständige Aufklärung wahrscheinlich heute nicht mehr möglich ist, habe ich versucht, die damaligen Ereignisse in nachstehender Kurzfassung darzustellen.
Mein Dank gilt an dieser Stelle allen, die durch ihre Anrufe und Briefe erst diesen Bericht ermöglichten.
Trotz ständigem Vorrückens der sowjetischen Truppen im Rahmen der am 13. Januar 1945[2] begonnenen Winteroffensive durften bei Androhung von Strafen weder Fluchtvorbereitungen getroffen, noch die Flucht selbst vorgenommen werden. Eine vorsorgliche Evakuierung der Bevölkerung gab es nicht, so dass die Menschen mit den schnell vorstoßenden russischen Einheiten im Nacken überstürzt ihre Wohnungen, Häuser und Höfe verlassen mußten. Die flüchtenden Menschen aus den Kreisen Neidenburg, Osterode und Mohrungen versuchten wegen der drohenden Einkesselung Ostpreußens im Treck oder mit den letzten Zügen die rettenden Häfen in der Danziger Bucht zu erreichen. Einige dieser Züge fuhren aber weiter, und zwar die pommersche Küste entlang u.a. nach Berlin und Sachsen.
Noch am Abend des 19. Januar
1945, als bereits die ersten feindlichen Truppen in das südliche Kreisgebiet
von Osterode eingedrungen waren, erfolgte ein Fluchtverbot der Kreisleitung der
NSDAP. In der folgenden Nacht und am 20. Januar wurde dann die Flucht der
Bevölkerung innerhalb weniger Stunden befohlen. Vom
19. bis 21. Januar gingen mehrere Flüchtlingstransporte der Reichsbahn u.a. von
den Bahnhöfen Osterode, Hohenstein, Gilgenburg und Liebemühl ab.[3]
Ähnliche Verhältnisse im Kreis Mohrungen, wo der Räumungsbefehl aus Königsberg
erst am 21. Januar um 14.00 Uhr eintraf. Als Fluchtrichtung wurde für den
westlichen Teil Elbing und für den östlichen Teil das Heilsberger Dreieck
angegeben. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich bedingt durch Flüchtlinge und Trecks
aus den Kreisen Lyck, Insterburg und den Nachbarkreisen die dreifache Anzahl
von Menschen in der Stadt und den Dörfern des Kreises. Von der Reichsbahn
wurden mehrere Züge zusammengestellt, die bis auf die Trittbretter überfüllt
waren und entweder die Strecke über Marienburg-Elbing oder Wormditt nahmen[4].
Für den Kreis Preußisch-Holland kam am 20. Januar der Befehl zur Vorbereitung
der Räumung, jedoch erfolgte infolge des raschen Vormarsches der Roten Armee sowjetischen
Truppen bereits einen Tag später der Befehl zur sofortigen Flucht.
Die meisten Bewohner flüchteten mit dem Treck. Einige der Flüchtlingszüge haben
im Bahnhof Schlobitten noch Flüchtlinge aus der Umgebung mitnehmen können, die
auch Elbing erreichten. Bei Güldenboden wurde ein Zug am 23. Januar von Panzern
beschossen, ein anderer mußtemusste von
dort nach Königsberg zurückfahren[5]
Wie Frau Edeltraud Köhler, geb. Gresch aus Osterode, berichtet, ist sie am 21. Januar in der Dämmerung mit einem Zug vom Bahnhof abgefahren und bereits am 27. Januar 1945 in Wittenberge angekommen. In einer großen Halle des RAW[6] Berlin-Schöneweide gab es einen Zwischenaufenthalt, wobei der Zug über Dirschau und dann die Pommersche Küste entlang fuhr. Ihr Großvater Wilhelm Zebrowski (Weichensteller) ist anderntags mit den letzten Eisenbahnern in einem aus einer Lok und einem Personenwagen bestehenden Zug von Osterode abgefahren und erreichte Berlin. Da die Stellwerke unbesetzt waren, mußten die Weichen per Hand gestellt werden. Auch Horst Melzer aus Osterode, der gerade als 18jähriger Soldat einen Kurzurlaub hatte, berichtet über Weichenstellungen per Hand. Sein Nachbar Tomaschewski (?) aus der Olgastraße war Lokführer, er nahm ihn auf die Lok des im Dunkeln am 21. Januar abfahrenden Flüchtlingszuges mit, wo er am linken Fenster der Lok scharf Ausguck hielt, denn es musste auf Sicht gefahren werden. Dieser Zug erreichte Wittenberge.
Nach Angaben von Ulrich Gehrke aus Osterode verließ der letzte Flüchtlingszug Osterode am Sonntag, dem 21. Januar 1945 gegen 18.00 Uhr. Unmittelbar vorher war der Bahnhof der Wehrmacht übergeben worden. Zu dieser Zeit waren bereits russische Panzer im stadtnahen Buchwalde. Russische Artillerie schoss über den Bahnhof hinweg, deren Einschläge auf dem Drewenzsee man hören konnte. Dieser Zug fuhr über Liebemühl nach Mohrungen und konnte von dort erst am 22. Januar abends über Dirschau weiter fahren und Leipzig erreichen
Die exakte Anzahl der von Osterode abgefahrenen und überfüllten Flüchtlingszüge lässt sich heute nicht mehr ermitteln. Des weiteren sind nach einem Bericht des stellvertretenden Werkdirektors Ernst Braun vom Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) Osterode am 21. Januar 4 Züge in der Zeit von 0.30 bis 16.30 Uhr mit mehr als 10.000 Personen (Arbeiter,
Fremdarbeiter, Angehörige und einigen Flüchtlingen) in den
Westen gelangt. [7]
Der Unglückszug ist am 21. Januar 1945 gegen Abend bei Anbruch der Dunkelheit von Osterode abgefahren. Dieser Zug bestand aus Güterwagen und erreichte trotz der geringen Entfernung mit vielen Unterbrechungen erst Mohrungen vormittags am 22. Januar 1945. Hier verließen Volkssturmmänner, die wohl überwiegend aus Hohenstein waren, den letzten Waggon des Zuges. In den frei werdenden Waggon stiegen dort an der Militärrampe wartende Flüchtlinge ein. Jugendliche haben Munitionskisten aus dem Güterzug entladen, um für sich und ihr Gepäck Platz zu bekommen. Aus einem in der Nähe befindlichem Verpflegungsdepot der Wehrmacht sind Lebens- und Genussmittel verteilt worden, auch Suppen wurden ausgegeben. Wegen der abgehängten Lok konnte der Zug erst am Montagabend, dem 22. Januar, Mohrungen verlassen und ist dann in der Nacht auf den 23. Januar bei Grünhagen auf einen im Bahnhof haltenden Lazarettzug aufgefahren.
Ich selbst war mit meiner Mutter Frieda Timmreck,
geb. Fritz (*1906) und meinem Bruder Diethelm (*1930) im zweitletzten Wagen des
Unglücks zuges. Mein Bruder war am Sonntag mit
dem Fahrrad aus unserem beschaulichen Buchwalde zwecks Anzugsprobe aus anlas
seiner bevorstehenden Konfirmation in die Stadt Osterode gefahren, kam aber
nicht weit, weil die Straßen durch Trecks aus dem Kreis Neidenburg sowie den
umliegenden Dörfern und den fliehenden Menschen aus Osterode verstopft waren.
Seine aufgeregten Worte: „Mutti, Mutti, wir müssen flüchten, die Straßen sind
voller flüchtender Menschen...“. Obwohl meine Mutter bereits eine
Aktentasche mit allen wichtigen Papieren gepackt hatte, kam der Aufbruch zur
Flucht zwar nicht überraschend, aber doch sehr plötzlich und überstürzt.
Glücklicherweise bekamen wir noch ein kleines Plätzchen in einem auf dem
Bahnhof stehenden Güterzug. Die Fahrt dauerte mit Unterbrechungen sehr lange.
Plötzlich wurden wir alle mit einem großen Ruck durchgeschüttelt und der Zug
stand, weil unser Zug auf einen anderen Zug aufgefahren war. Die dann lauten
Rufe nach einer Taschenlampe sind mir noch sehr gut in Erinnerung. Beim
Aussteigen konnte ich sehen, dass kurz vor unserem Zug eine Lok stand.
Tatsächlich aber war es ein langer Flüchtlingszug, denn im Dunkeln hatte ich
das nicht erkennen können. Im hohen Schnee stolperten wir an wimmernden,
weinenden und schreienden Menschen vorbei zum Bahnhof. Dort warteten wir auf
einen versprochenen Entlastungszug, der leider nicht kam. Im Morgengrauen
erschienen russische Panzer, die in die wartende und flüchtenden Menschen
schossen. Meine Mutter packte mich sofort fest an ihre Hand und wir liefen mit
vielen anderen Menschen über die Gleise und Koppeln durch den hohen Schnee in
ein nahe gelegenes Wäldchen, wobei sich meine Mutter am Stacheldraht einer Koppel
ihre Hand leicht verletzte. Im Wäldchen haben wir uns einem Soldaten mit seiner
jungen Frau und ihrem Kleinkind angeschlossen. Wir mieden die Hauptstraßen,
wobei uns der hohe Schnee auf den Nebenwegen sehr zu schaffen machte. Auf einem
Bauernhof, der schon mit Flüchtlingen belegt war, fanden wir für die Nacht
notdürftige Unterkunft. Die Frauen rieben ihre Gesichter mit Asche ein und
machten sich alt. Unser Soldat zog Zivilsachen an. So warteten wir verängstigt
auf die ersten Russen, die dann auch bald kamen und sich einige Frauen
ungeachtet ihres Aussehens und Alters holten. "Frau komm, Hitler
kapuuut", hörte man immer wieder. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nicht,
warum, bekam das aber dann später zu sehen. Damit war unsere Flucht vor der
russischen Armee zunächst beendet.
Die vielfältigen
Schattierungen der Tragödie spiegeln sich in den nachstehenden Berichten
wieder:
Frau Inge Koeppen, geb. Schönsee aus Osterwein berichtet, dass sie am Sonntagabend, dem 21. Januar in einen Flüchtlingszug, bestehend aus Viehwagen, in Liebemühl eingestiegen ist und dort ein weiterer Flüchtlingszug mit offenen Loren stand. Ihr Zug ist erst am Montagabend, dem 22. Januar, in Richtung Miswalde weiter gefahren. Unterwegs musste wegen Beschuss wieder rückwärts nach Liebemühl gefahren werden. Der nächste Anlauf ging Richtung Maldeuten. Auch dort konnte man Schüsse hören, dann blieb der Zug vor Grünhagen stehen. Hierzu passt ergänzend die telefonische Mitteilung von Günter Wienczkowski aus Locken, der in Mohrungen zugestiegen ist, dass ein deutscher Feldwebel mit einer Taschenlampe den Zusammenstoß eines weiteren Zuges mit den beiden verunglückten Zügen verhindert haben soll. Auch Rosemarie Trzaska, geb. Saborrosch aus Hohenstein, deren Familie im letzten Wagen des Flüchtlingszuges saß, teilte mit, dass mit Hilfe der Taschenlampe ihrer Mutter ein ankommender Zug zum Halten gebracht wurde, und dass der Abstand zwischen diesen beiden Zügen nur ca. 10 Meter betragen haben könnte.
Frau Inge Koeppen war damals 11 ½ Jahre alt.. Sie stand morgens an einem Fenster in der Molkerei und konnte von dort auf die Kreuzung und das Gehöft sehen.
: Es war vielleicht so 8
oder 9 Uhr, da kamen die ersten Russen
mit Gewehren im Anschlag über das Gehöft an der Straße, dahinter hörte
man Panzer. Es wurde aus dem Bahnhofsgebäude oben aus dem Fenster geschossen,
daraufhin senkten die Panzer ihre Rohre. Wir flüchteten in den Molkereikeller,
die Menschenmenge auf dem Bahnhof bekam einiges ab. Die Russen staunten über
die vielen Menschen auf dem Bahnhof, sie wussten wohl nichts von dem
Zugunglück. Wir wurden aus dem Keller geholt, es hieß dann: „Damoi, damoi und
Uri, Uri. Ich sah noch, dass die Russen als erstes die Schienen auseinander
schraubten und den Signalmast umlegten.“
Erwin Kreft aus Saalfeld ist am 22. Januar in einem in Miswalde zusammengestellten Flüchtlingszug eingestiegen, der wegen Überlastung der beiden Bahnstrecken von Miswalde aus nach Elbing und Marienburg, die Strecke über Maldeuten und Preußisch-Holland nach Elbing nehmen sollte. Dieser Zug blieb in der Nacht vom 22. auf den 23. Januar etwa 200 Meter vor der Bahnstation Maldeuten stehen, weil die Eisenbahnstrecke durch einen langen Flüchtlingszug und den beiden verunglückten Zügen blockiert war.[8]
Zusammenstoß auf dem Bahnhof Grünhagen
In einem Brief von Frau Hilde Bruhn, geb. Klautke aus Schertingswalde bei Mohrungen vom 23.12.1945 schildert sie recht anschaulich ihre Fluchterlebnisse, die ja erst 9 Monate zurück lagen. Die Familie bekam am 21. Januar abends Bescheid, dass sie anderntags morgens am Bahnhof Mohrungen sein sollten. Das Zugunglück wird von ihr in diesem Brief so geschildert:[9]
...... Ja wir sind dann aber erst abends 7 Uhr von Mohrungen
losgefahren, da war der Russe gar nicht mehr weit weg. Dann sind wir bis
Grünhagen gekommen, und da passierte das Unglück. Unser Zug fuhr auf einen
Lazarettzug, der keine Einfahrt hatte. Ja und an unserem Wagen ist auch etwas
kaputt gegangen, und er fuhr bis auf die Hälfte zusammen. Ja, liebe Liesbeth, das
kannst Du Dir ja vorstellen in unserem Wagen allein waren bestimmt 15 Tote. Da
haben Soldaten erst mal den Wagen aufgeschlagen und uns alle raus getragen. Wie
ich da raus gekommen bin, weiß ich selbst nicht, ich dachte bestimmt meine Füße
sind kaputt, unser Gepäck war natürlich alles hinüber. Ich weiß aber noch, dass
Siegfried gleich tot war, er ist im Kinderwagen erstickt und von Tante Anni´sAnnis
Schwester Toni die Kleine auch.
Hilde Bruhn schreibt weiter, dass ihre Familie hiernach zunächst bis Preußisch-Holland und dann weiter den Bahngleisen entlang bis Güldenboden gelaufen, wo mehrere Flüchtlingszüge standen. Mit einem der Züge ist die Familie bis nach Berlin gekommen.
Max Tei... , Kreisoberinspektor
i.R. aus Mohrungen, faßtefasste 1958 verschiedene Augenzeugenberichte
wie folgt zusammen:[10]
Der Zusammenstoß erfolgte nachts. Ein
unbeschreibliches Chaos setzte ein. Fremde Hilfe war nicht zu erwarten, alles
war auf sich selbst gestellt. Mehrere hundert Tote lagen in den Trümmern und
auf den angrenzenden Feldern. Die Anzahl der Verletzten war überhaupt nicht zu
schätzen. Ganze Familien sind dabei ausgerottet. Die Namen sind nicht
feststellbar. Das Chaos wurde riesengroß, als der Ruf ertönte: „Die Russen sind
da“. Rette sich wer kann, hieß die Losung. Männer, Frauen und Kinder versuchten
über die tief verschneiten Felder in die Wälder oder umliegenden Dörfer zu
entkommen. Russische Truppen nahmen die Flüchtenden unter Maschinengewehrfeuer.
Der Bahnhofsvorsteher Friedrich Hopp vom Bahnhof Grünhagen erlebte die Tragödie
so: [11] Gegen
23.00 Uhr traf ein Lazarettzug aus Richtung Maldeuten auf dem Bahnhof Grünhagen
ein. Der Lokomotivführer erkundigte sich bei ihm über die Strecken-verhältnisse
Richtung Preußisch-Holland. Von Wichtigkeit war für ihn das Gefälle der
Strecke. In der gespannten Situation standen alle Signale auf Fahrt, und die
Lokführer hatten die Anweisung, auf Sicht zu fahren. Während des Aufenthaltes
des Lazarettzuges auf dem Bahnhof fuhr ein mit Flüchtlingen aus dem Raum
Allenstein/Osterode kommender Zug auf den stehenden Lazarettzug auf. Der
Lokomotivführer des Flüchtlingszuges hat die erforderliche Aufmerksamkeit des
„Aufsichtfahrens“ nicht walten lassen. Bei dem Aufprall wurden mehrere Wagen
des Lazarettzuges schwer beschädigt. Die Überlebenden in diesen Wagen wurden
auf die heilgebliebenen umgeladen. Dieses Vorkommnis nahm mehrere Stunden in
Anspruch. Gegen 2.00 Uhr des 23. Januar 1945 verließ der noch intakt gebliebene
Teil des Lazarettzuges mit dem Berichterstatter
als Lotsen den Bahnhof
Die Menschen mußten nun die auf
dem hohen Bahndamm stehenden Züge auf Anweisung von Soldaten und des
Bahnpersonals verlassen. Frau Martha Schwichtenberg-Böhl aus Mohrungen, die
selbst ihren linken Arm beim BeschußBeschuss durch
die Russen verlor, schreibt hierzu:
Da wir mit unserem Zug auf einer hohen
Böschung standen und wegen der Dunkelheit nichts sehen konnten, purzelten wir
die Böschung hinunter, mußten die Kinder suchen oder beim Sturz verlorene
Schuhe und Kleidungsstücke, die wir bei der herrschenden Kälte nicht entbehren
konnten. Es war ein Schreien und Weinen. Nur langsam konnten wir uns in dem
hohen Schnee vorwärts bewegen. Auf unserem Weg sahen wir, dass Waggons
ineinander geschoben waren und Helfer versuchten, die Verwundeten bei
Taschenlampenlicht zu bergen.
Es wurden Parolen ausgegeben, wonach sich die Menschen zum Bahnhof begeben sollten, denn man erwartete aus Elbing einen Hilfszug. Die Menschen begaben sich im hohen Schnee bei 20 bis 25 Grad Kälte an Verletzten und Toten vorbei zum Bahnhof. Hier warteten sie dicht gedrängt, schutzlos dem einsetzenden Schneesturm ausgesetzt, geduldig auf den versprochenen Entlastungszug, der jedoch nie ankam. Christel Wiesjahn, geb. Fröhlich, aus der Hindenburgstraße in Osterode berichtet, dass ihre Mutter die kleine Schwester mehrmals hoch hob und auf die Füße fallen ließ, was auch andere Mütter taten, um die besonders leidenden Kinder vor dem Erfrieren zu bewahren. Aus der unmittelbar neben dem Bahnhof gelegener Molkerei wurden große Käseballen gerollt und Stücke davon sowie warme Milch aus großen Kesseln an die hungrigen und frierenden Menschen verteilt. Nur einige der Flüchtlinge fanden in der Molkerei und in den Bahnhofsgebäuden Unterschlupf.
Bei Tagesanbruch am Dienstag, dem 23. Januar erschienen aus der Richtung Maldeuten Panzer. Erwin Kreft aus Saalfeld schreibt hierzu in seinem Bericht vom 14.06.1952: [12]
Es war schon hell, plötzlich stand ein
Panzer auf der Chaussee bei einer Kurve. Er gab einen SchußSchuss ab; die
Granate mußtemusste weit im Walde explodiert sein. Dann
setzte der Panzer sich in Bewegung und weitere Panzer mit Leintücher um die
Geschützrohre gehängt, kamen bei der Kurve der Chaussee zum Vorschein. Ich
zählte 5 Panzer, zwischen den Panzern fuhren kleine Kettenfahrzeuge voll mit
Soldaten besetzt. Die verhielten sich noch ruhig, da die zwischen den
Flüchtlingen stehenden deutschen Soldaten selbst keine Anstalten machten zu
fliehen. Ja, sie sagten, dass nur deutsche Panzer sein könnten. Die Soldaten
der Kettenfahrzeuge stiegen ab und liefen über die Felder auf den verlassenen
1. Flüchtlingszug zu, der etwa 200 bis 300 m abseits von der Menschenmenge
stand. Und dann sah es jeder, dass es Russen sind. Eine Panik brach aus, alles
lief durcheinander. Die Frauen schrien nach ihren Kindern und Kinder schrien
nach ihren Müttern. Viele strebten nun dem Walde zu, der einige Hundert Meter
entfernt lag. Auch ich lief und stolperte durch den hohen Schnee über Felder
und durch Roßgärtenumzäumungen dem Walde zu. An den Stacheldrahtumzäumungen
hingen viele Handschuhe, die beim Durchsteigen hängen geblieben sind
Auf dem Bahnhofsgelände sollen
sich nach einigen Schätzungen 4000 bis 7000 Menschen[13]
befunden haben. Das Chaos aufgrund des Zugunglücks wurde durch den BeschußBeschuss in
die wartende und flüchtende Menschenmenge der russischen Panzer noch ins
unbeschreibliche verstärkt.
Georg Loyal aus Schlappacken:[14]
Die Menschen stürzten panikartig in einem
neben dem Bahnsteig gelegenen Graben und sangen: „So nimm denn meine Hände“.
Dann fielen die nächsten Schüsse.
Edith Mischock, geb. Labenski aus Osterode, die damals 13 Jahre alt war, ist mit ihrer Familie am 21. Januar 1945 in Osterode Bahnhof in einen Güterzug gestiegen. Sie schreibt hierzu u.a.:
Als das Schießen näher kam, fuhr endlich der Zug ab, blieb aber bald
wieder stehen. So ging das 2 Tage und wir waren nur 45 km weit gekommen. Aber
in Grünhagen fuhr unser Zug auf einen Lazarettzug. Bald hieß es, die Waggons
sind zu räumen.. Die ersten, die aus dem Waggon sprangen, standen im tiefen
Schnee. Wer nicht aufpasste, wurde von nachrückenden Menschen erdrückt. Ich
hatte auch plötzlich die Mutti verloren, weil ich ein Kind von Frau Pachmann
trug. Der Junge hatte einen Schuh verloren und das im Winter. Das
Bahnhofsgebäude war klein, da hielt bestimmt nicht jeder Zug. Alle Menschen
standen nun da, man sprach von 4000 und fror. So warteten wir bis es hell
wurde. Dann kamen die Panzer die Straße entlang, aufgesessene Soldaten sprangen
herab und legten sich hin. Da hieß es, die Panzer kommen zur Sicherung des
Zuges. Die Panzer fuhren bis zum Bahnhof und fingen dann an in die
Menschenmenge zu schießen. Wir legten uns sofort in den Graben und Mutti deckte
uns mit einer Decke zu. Als das Schießen aufhörte, kamen die Soldaten. Das
waren natürlich Russen, die nahmen alle Uhren, die sie fanden und sagten, dass
wir nach Hause gehen sollten.
Es gab viele Verletzte, Verwundete, Tote und keine fremde Hilfe. Menschen waren nur auf sich selbst angewiesen. In einem der Bahnhofsgebäude wurde ein Kind geboren. Nur die damals 42jährige Krankenschwester, Emilie[15] Kaminski, hat unter den primitiven Verhältnissen in einem aufopferungsvollen Dienst die Verwundeten und Verletzten notdürftig versorgen können. Mangels fehlenden Verbandmaterials wurden Bettlaken zerrissen und als Verbände verwendet. Hierzu berichtet Anna Badziong aus Osterode, dass sie beim Beschuss durch die Russen schwer verwundet wurde und im Bahnhofsgebäude mit vielen anderen Verwundeten von der Krankenschwester Kaminski gepflegt wurde. Ihre zwei Brüder und eine Schwester waren bei dem Beschuss sofort tot. Ihre Mutter erhielt einen Bauchschuss und verstarb zwei Tage später. Besonders tragisch, dass ihr Vater 3 Monate vorher verstarb und ihre zwei ältesten Brüder als Soldaten gefallen waren. Nur sie und ihre jüngste Schwester haben von ihrer Familie die Tragödie überlebt. Unter den vielen Verletzten war auch die 7jährige Irene Kapowski aus Neidenburg, die durch die Beschießung am Fuß und ihre Tante Edith Lange am Oberschenkel Verwundungen erlitten hatten. Die kleine Irene lag bis zur Abheilung im Sommer auf einem Rodelschlitten, um nicht auf dem kalten Fußboden liegen zu müssen. Ihre damals 81jährige Urgroßmutter Wilhelmine Lesczinski versorgte die Kranken mit einigen Nahrungsmitteln, die sie aus den zurückgelassenen Gepäckstücken der Flüchtlinge sowie aus der Umgebung auftreiben konnte. Auch verschaffte sie sich durch ihre masurischen Sprachkenntnisse und ihr Alter allzu aufdringlichen Russen gegenüber einen gewissen Respekt.
Das Bahnhofsgebäude wurde eine Woche lang von den russischen Soldaten streng bewacht. Niemand durfte hinaus. Bei Kontrollen mußten die Verbände abgemacht werden, weil man die Verwundungen anzweifelte. Trotz ihrer Verwundungen mußten die dort liegenden Menschen vieles erleiden. Mangelnde Ernährung, keine ausreichende medizinische Versorgung und betrunkene Russen, die auf die Verwundeten mit ihren Gewehrkolben einschlugen und sogar schossen. Russische Offiziere haben die Betrunkenen dann festgenommen. Als es wärmer wurde, mußten ältere deutsche Männer ein langes Grab einige Meter vom Stellwerk entfernt am Rande des Ackerlandes ausschaufeln und die Toten vergraben. Das Grab war nicht sehr tief. Die genaue Zahl der dort begrabenen Toten ist nicht bekannt, aber es könnten aufgrund meiner telefonischen Rückfrage mit Frau Badziong mehr als 150 gewesen sein. Auf der gegenüberliegenden Seite der Gleise und des Stellwerkes ist ebenfalls ein Massengrab ausgehoben worden. Aber diese Aktion hat Frau Badziong von ihrem Krankenlager aus nicht sehen können. Auf den benachbarten Höfen haben sich viele Verletzte und Verwundete mit ihren Angehörigen aufgehalten. Auch hierunter gab es viele Tote, die in den Gärten bestattet wurden.
Als die immer näher rückende Front infolge der russischen Herbstoffensive immer bedrohlicher wurde, erfolgten im Herbst 1944 im nördlichen Grenzland sogenannte „Vorübergehende Evakuierungen“. Hierzu gehörte auch die Familie Julius Albert Klein mit Ehefrau Anna, geb. Helbing und den beiden Söhnen Konrad (*1934) und Martin (*1935) aus Insterburg, die in Mohrungen evakuiert wurden. Nach dem Julius Albert am 17 Januar 1945 vorzeitig zu seiner Volkssturmeinheit nach Insterburg zurück fuhr, überschlugen sich die Ereignisse. Frau Klein konnte schließlich mit ihren Kindern nach langem und bangem Warten in den an der Rampe in Mohrungen eingefahrenen Güterzuges einsteigen, der die Flüchtlinge nach Sachsen bringen sollte.. .
Frau Klein hat nach ihrer Ausreise 1958 aus Polen einen 74 Seiten umfassenden handschriftlichen Bericht[16] über die Zeit vom 17. Januar bis Ostern 1945 geschrieben. Hieraus einige Passagen:
So zogen
wir dann mit unseren Kindern im Morgengrauen über Schneewehen und Gleise zur
Verladerampe, wo tatsächlich bald danach ein Güterzug langsam vorgefahren kam.
Alte Männer und beinahe noch Kinder verließen die Wagen, die gleich darauf von
uns belegt wurden. Ich lande mit meinen Buben im letzten Waggon. An den
Seiten befanden sich Holzbänke, die Kinder saßen zu unseren Füßen im Stroh.
Soweit hatten wir es geschafft, die Rampe war leer und tausende Herzen klopften
in Angst und warteten auf die Abfahrt.
......Die Kinder schliefen und
wir Erwachsenen tauschten leise unsere Meinungen und Befürchtungen aus. Ein
Klopfen unter dem Waggon ließ uns aufhorchen. Eine Stimme rief: „In die Hölle
fahrt ihr, die Strecke ist voll Minen. Steigt lieber aus und geht nach Hause“.
Der Zug fuhr nacheinigen Rucksen wieder an. Diesmal ging’s noch langsamer, aber
stetig vorwärts. Ich glaube, wir hatten alle ein Nickerchen gemacht, als ein
gewaltiger Stoß meinen Kopf erst nach links und dann nach vorne warf und hinter
mir die Tür mit Getöse zuknallte. Ein ungeheurer Schmerz im Genick ließ mich
zuerst hellwach sein und mein erster Gedanke, den ich auch aussprach, war: „Da
ist ein Unglück geschehen!“. Eine alte herzkranke Dame suchte in der Finsternis
Hoffmannstropfen und sank bald darauf ohnmächtig ins Stroh, wo sie dann auch
gestorben ist. Dann fiel auch ich in Ohnmacht. Eine Frau gab mir etwas zum
Riechen, was half - sie beruhigte auch meine Buben. Die Türe in meinem Rücken,
die bei dem Stoßerst auf und dann zugeschlagen war, und mir fast den Kopf
abgerissen hätte, war verklemmt und nicht zu öffnen. Also versuchten wir es bei
der anderen. Aber die war zugefroren und widerstand allen Bemühungen. Sechs
oder acht Personen zogen an den Griffen, aber kein Erfolg. Draußen hörten wir
Schreien und Rufen und plötzlich ganz deutlich eine Männerstimme: „Licht, um
Gottes Willen! Licht, es kommt noch ein Zug! Wir waren im letzten Waggon. Meine
Hände fielen vom Türgriff. Ich tastete mich zu meinen Buben, nahm sie in die
Arme und dachte, „So ist alles vorbei, Gott, mach es gnädig und zusammen lass
uns sterben“. Aber ich hörte die Lokomotive fauchen, die bremsen kreischen und
wusste, dass das Schicksal uns bewahrt hatte. Alle empfanden wohl wie ich,
fühlten das warme Aufsteigen zum Herzen und fast gleichzeitig legten sich vier,
sechs oder noch mehr Hände auf die Griffe an der Tür und, was vorher nicht
gelingen wollte, gelang jetzt. Die Tür sprang auf und obgleich wir alle
durcheinander purzelten, konnten wir doch raus aus unserer unfreiwilligen
Gefangenschaft. Die starke Vibration des direkt hinter uns gestoppten Zuges
wird wohl die Wagentüre gelockert haben. Die Ersten, die nicht auf die Entfernung
von der Erde bis zum Waggon geachtet hatten, fielen in einen schneegefüllten
Graben.
Wir machten uns auf den Weg
zum nächsten Bahnhof, immer den schmalen Spuren im Schnee nach, der 3 km
entfernt sein sollte. Schon nach wenigen Metern sah ich Schatten in die Luft
ragen und hörte die Schreie der Verwundeten. Welch grausamer Anblick! Unser Zug
war auf einen haltenden Lazarettzug gefahren; die ersten Wagen hatten Kanonen
und andere schwere Geschütze geladen, zwischen denen Flüchtlinge gesessen
hatten. Den meisten von Ihnen war nicht mehr zu helfen. Die Eisenteile hatten
sich ineinander geschoben und hoch oben hingen diese Ärmsten – nur
Gnadenschüsse konnten ihnen helfen. Von dem Lazarettzug war nicht viel zu
sehen. Es hieß, dass man die letzten verunglückten Wagen abgehängt hätte und
der Zug davonfuhr, er soll sogar Flüchtlinge mitgenommen haben.
......7 Uhr früh, sah ich nach
rechts zum Waldrand hinüber. Graue Schatten liefen dort gebückt hin und her;
ein eigenartiges Gefühl in der Magengegend, es war bestimmt Angst, ließ mich
meine Vermutung, es könnten Russen sein, laut aussprechen. Ein vorbeieilender
Soldat schrie mich an und erklärte mich für verrückt. „Frau“, brüllte er, „das
sind deutsche Soldaten, die werden uns alle retten“. Ein alter Mann schlug ihm
ganz ruhig ins Gesicht und sagte: „Schluss jetzt mit den Mätzchen, was jetzt
kommt ist die traurige Wahrheit!“ Der Soldat drehte sich stillschweigend um und
ging fort, wir schauten alle hinterher. Er war erst wenige Schritte von uns
entfernt, als ein Schuss krachte und der Soldat einen kleinen Abhang
hinterkullerte. Wir waren alle ganz erschreck und schauten uns um: auf der
Verladebühne ein Russe im schwarzwattierten Panzeranzug, die Waffe, aus der der
Schuss kam, in der Hand. Aber gleich darauf dröhnte es, einmal und noch einmal
und die Mauer vor uns an den Gleisen bebte. Entsetzungsschreie gellten und
wollten kein Ende nehmen. Wie ich nach links sehe, da steht ein russischer
Panzer. Mein Gott, denke ich, der hat auf den Bahndamm geschossen. Meine Kinder
hatte ich fest an mich gepresst und erwartete, dass die Schießerei nun
weiterginge. Aber der Panzer schoss nicht mehr. Nur Maschinenpistolen krachten,
denn die Russen machten Scheibenschießen auf diejenigen, die über den
weißverschneiten Acker zum Waldrand
hinüber liefen. Nur wenige haben den Wald erreicht, die meisten überschlugen
sich im Fallen und blieben hilflos, verwundet oder tot liegen. Der Russe auf der Verladebühne sagte plötzlich laut im fließendem Deutsch: „Frauen! Macht euren
Schmuck ab, versteckt ihn, in einer halben Stunde ist der Nachschub da, sonst
ergeht es euch schlecht!“. Ein Chaos entstand – viele Menschen schnitten sich
die Pulsadern auf, auch ich kramte in meiner Umhängetasche nach dem
Taschenmesser. Da legte sich eine Hand auf meine Schulter und eine wunderbar
ruhige Stimme sagte: „Tun Sie das nicht, geben Sie Ihren Kindern und sich eine
Überlebenschance“. Es war dieselbe Stimme, die nachts nach einer Lampe rief und
den Zug anhielt, der sonst auf unseren aufgefahren wäre. Stillschweigend
schloss ich die Augen und verdeckte auch meinen Buben mit meinen Händen die
Augen.
In einem Bericht von Liselotte Schulz aus Mohrungen wird die Anzahl der Toten mit 140 und beim Bahnhofsvorsteher Friedrich Hopp mit 150 angegeben. Diese Angaben beziehen sich aber auf Angaben Dritter. Auch sollen sich einige deutsche Soldaten nach Angaben von Frau Messerschmidt aus Osterode erschossen haben, um nicht in die Hände der russischen Soldaten zu fallen.
Die Familie Weiß aus Mohrungen, bestehend aus Großmutter, Mutter und vier Kindern saß in einem Waggon hinter der Lok. Die damals 10jährige Charlotte Weiß, verheiratete Sauerland, berichtet, dass ihr 15 Jahre alter Bruder Horst nach dem Zusammenstoß mit anderen gleichaltrigen Jungen aus dem Waggon gesprungen sei. Dabei ist ihr Bruder auf die Schienen gefallen und wurde von einem Eisenbahnrad erfasst. Der Bruder schrie fürchterlich, konnte jedoch befreit werden, verlor aber das Bewusstsein und wurde dann in den noch intakten Teil des Lazarettzuges gebracht, der bald den Bahnhof Grünhagen verließ. Obwohl er die Adresse einer Cousine aus Leverkusen bei sich hatte, konnte über den Verbleib von Horst Weiß (*15.01.1930) trotz intensiver Suche der Familie nichts in Erfahrung gebracht werden. Vermutlich ist er auf der Weiterfahrt des Lazarettzuges verstorben. Die anderen 15/16jährigen Jungen aus dem Waggon kamen in russische Gefangenschaft.
Noch am Sonntagvormittag hatten
Jungen der HJ in Mohrungen Wehrmacht-Fahrzeuge durch die Stadt gelotst, wobei
die Soldaten teilweise über die Sorglosigkeit der Jungen entsetzt waren. Die
Jungens hatten kein Gespür für die Gefahr, denn für die war das doch alles sehr
aufregend. Nachmittags war die Stimmung umgeschlagen, denn nun wurde mit dem
Verbrennen von Akten, Fahnen usw. begonnen. Bald aber wurden die Jungen aus der
Dienstpflicht entlassen. Unter ihnen der 15jährige Lothar Weichsel, der später
über diese Tage einen ausführlichen und detaillierten Bericht schrieb. Zuhause
warteten schon die Mutter mit der Schwester und dem Großvater und kleinem reisefertigem Gepäck. Es gab viele
Gerüchte. Am Bahnhof, wo viele Menschen warteten gab es keinen Zug. Nach dem
man vergeblich an der Georgenthaler Straße versucht hatte, Wehrmachtsfahrzeuge
anzuhalten, ging man nach Hause. Strom, Gas und Wasser gab es noch. Die Familie
begab sich am nächsten Tag erneut um Bahnhof, weil Gerüchte über
Flüchtlingszüge kursierten. Lothar Weichsel hat einen Bericht vor Jahren
verfasst und schreibt am 9.11.2005, dass er den Bericht heute genau so
schreiben würde. Hier einige Auszüge
aus seinem Bericht[17].
......Nach dem ein Lazarettzug abgefahren war, kam aus Richtung Osterode
ein Güterzug mit Volkssturmleuten, die in Mohrungen irgendetwas verteidigen
sollten. In Fahrtrichtung Norden, d. h. Richtung Maldeuten – Elbing, befanden
sich 3 oder 4 offene Loren, der Rest des Zuges bestand aus geschlossenen
Güterwagen. Wie viele? 10 oder 20, ich kann es nicht sagen. Volkssturmleute
gingen dann, ließen aber die Munitionskisten in den offenen Loren zurück. Es
fing ein allgemeines Gedränge an, was sich aber in Grenzen hielt, da die
Lokomotive weggefahren war. Wie viele Menschen in dem Zug waren? Ich schätze so
um die 1000. In dem Wagen, in dem wir Platz gefunden hatten, zählte ich um die
90 Personen.
......Wir warteten. Nach Stunden, es mag gegen 15.00 Uhr gewesen sein,
kam Bewegung auf. Eine Lokomotive wurde vor den Zug gespannt, wir dachten es
ginge endlich los. Zu unserer Enttäuschung und Schreck merkten wir, dass der
Zug nur auf ein Nebengleis zwischen „Hohe Brücke“ und Stellwerk geschoben
wurde, man brauchte den Platz an der Rampe zum Beladen eines weiteren Zuges mit
Verwundeten. Wir warteten und warteten. Gerüchte gab es genug. Es wurde immer
kälter.
......Endlich, es kann gegen 21.00 Uhr gewesen sein, setzte der Zug sich
in Bewegung. Ich meine, irgendwo in der Stadt fielen zu der Zeit auch Schüsse.
Die Fahrt ging sehr langsam voran, dauernd hielt der Zug, in Maldeuten längere
Zeit. Hier entstand auf dem Bahnhof plötzlich Unruhe, der Zug fuhr sehr schnell
ab, da war etwas im Gange, das merkten wir. Die Geschwindigkeit wurde immer
höher. :Dann vor dem Bahnhof Grünhagen, wurde stark gebremst, es
gab einen fürchterlichen Ruck und einen gewaltigen Krach. Einen winzigen
Augenblick herrschte Totenstille, dann Panik im Wagen und draußen, Rufen,
Schreien. Meine Mutter und ich stiegen aus, um zu sehen, was passiert war. Der
Zug war auf den vorausfahrenden Lazarettzug aufgefahren! Der Lazarettzug stand
mit den letzten Wagen über das rote Haltesignal hinaus. Es war ein grausiges
Durcheinander. Die letzten Wagen des Lazarettzuges hatten sich zum Teil
übereinander geschoben, die ersten Wagen des folgenden Zuges waren entgleist.
Die in den offenen Loren aufgestapelten und nicht ausgeladenen Munitionskisten sind
beim Auffahren natürlich nach vorn geflogen und verletzten und töteten mehrere
Menschen. Wie viele kann ich nicht sagen. Hier erblickte ich auch die erste
Tote dieser furchtbaren Zeit. Ein Mädchen vielleicht 13 Jahre alt. Arme und
Beine durch die Munitionskisten abgequetscht.
......Es dauerte nicht lange, vielleicht eine halbe Stunde, da kam noch ein Zug aus Mohrungen. Wie der Lokführer das Bremsen schaffte, ist mir ein Rätsel. Der Zug, in dem wir saßen, hatte nämlich hinten kein Licht! Bei dem nun wirklich letzten Zug hatte man alles zusammengesucht, was auf dem Mohrunger Bahnhof noch zu finden war. Zum Teil kauerten die Menschen auf einfachen Plattenwagen.
......Plötzlich, entstand
auf der Straße Unruhe. Es fielen Schüsse. Auf der Straße sahen wir plötzlich
eine Panzerkolonne. Was dann geschah, lässt sich dem Ablauf nach nicht
schildern. Wir standen auf dem Bahnsteig, als mehrere Panzer, so 3 oder 4, von
der Stra0e abbogen und in Richtung Bahnhof fuhren, Entfernung Bahnhof/Straße
100-200m. Auf den Panzern saßen
Soldaten, wegen der Kälte hatten sie sich Federbetten unterlegt (Was man in
solchen Augenblicken alles sieht!). Ungefähr 20 m von uns entfernt stand ein
Feldwebel der Wehrmacht und hantierte mit einer Maschinenpistole. Ich hatte
diesen Soldaten während des ganzen Krieges in der Stadt gesehen. Er fiel
dadurch auf, dass er immer wie aus dem Ei gepellt rumlief. Immer lange Hose,
keine Knobelbecher usw. Angesichts des Feindes schnallte er den Mützenriemen
unters Kinn und trat dem Feind heldenhaft entgegen. Ich habe nicht genau
hingesehen, ob er geschossen hat, wenn ja, hat er ein weiteres Verbrechen
dieses Krieges ausgelöst. Jedenfalls fielen von dem ersten Panzer mehrere
Soldaten zu Boden, ob tot oder verwundet, habe ich nicht erkannt. Die sowjetischen
Panzer fuhren sofort nebeneinander auf und schossen aus Kanonen und
Schnellfeuerwaffen. Die ausbrechende Panik war unbeschreiblich. Deswegen kann
ich den Ablauf der Dinge nicht genau schildern, nur die einzelnen Geschehnisse.
Unser Großvater riss uns mit, den Russen entgegen, so fanden wir Deckung
zwischen Bahnsteigkante und Schienen. Das totale Chaos brach aus. Menschen
beteten laut, schrieen teils vor Angst, teils vor Schmerzen, weil sie verletzt
waren. Die Wirkung der Granaten war furchtbar, auf dem tiefgefrorenen Boden war
die Splitterwirkung grausig. (Ich bitte dieses nicht für eine Übertreibung zu
halten.) Die meisten Menschen liefen natürlich vor den Russen fort. Hinter dem
Bahnhof lag eine ganz leicht ansteigende Wiese, natürlich tief verschneit,
niemand konnte schnell laufen. Und hier schossen die Helden der Roten Armee so
richtig zwischen. Reihenweise lagen die Toten und Verletzten da. Viele der
Flüchtenden hatten in einem flachen Graben hinter dem Bahnkörper Schutz
gesucht. Als ein Panzerfahrer das sah, fuhr er über die Gleise, so dass er und
seine Leute in die flache Mulde längs schießen konnte. Ich werde nie vergessen wie Frau ... aus
unserer Nachbarschaft Mutter Maria anrief, ein Schuss aus einer Panzerkanone
beendete das Gebet. In den Telefonleitungen hingen die Fetzen der Getöteten.
Und immer noch das laute Schreien und Beten. Aber auch hier gab es andere
Russen. Plötzlich erschien über uns an der Bahnsteigkante ein riesiger Soldat.
Filzstiefel und offene Wattejacke an, die Ohrenklappen seiner Pelzmütze
flatterten. Er winkte uns, wollte er uns erschießen? Meine Gedanken in dem
Augenblick: Ob das wohl weh tut? Ob man das Mündungsfeuer der Pistole noch
sieht? Es war sonderbar, ich fühlte mich, wie auch später bei ähnlichen
Gelegenheiten, wie ein daneben stehender Zuschauer. Nein, er brachte uns hinter
einem kleinen Schuppen in Sicherheit. Langsam wurde es ruhig, nur noch lautes
Stöhnen und einzelne Schreie. Alles lief durcheinander. Überall lagen die
vorher verteilten Käselaibe. Während der allgemeinen Panik konnte man sie
rollen sehen. Uns kam ein älteres Ehepaar entgegen, sie schleppten zwischen
sich einen jüngeren Mann, quittegelb im Gesicht, der Bauch voller Blut. Russen
schleppten einen SS-Mann an eine Hauswand und erschossen ihn. Lediglich aus dem
liegengebliebenen Lazarettzugwagen waren Schüsse und Schreien von Frauen zu
hören. Ich nehme an, dass die Verwundeten erschossen, die Krankenschwestern
vergewaltigt wurden. Augenzeugen haben mir das später bestätigt.
Die Familie des Stellmachers Emil Kirschnick[18] aus dem Masurenweg in Osterode befand sich in einem Waggon mit der Nr. 64, und zwar Gertrud Kirschnick (38 J), geb. Frenzel, mit den Kindern Lieselotte (14 J), Werner (11 J), Klaus (7 J) und der 8 Monate alten Gisela Es wird von der Familie u.a. von einem auftauchenden Offizier am hinteren Ende des Unglückszuges berichtet, der die Menschen aufforderte, sich auf der gegenüberliegenden Seite des Zuges aufzustellen mit dem Bemerken, dass ein beheizter Zug bald kommen würde. Danach ließ der Offizier seinen deutschen Uniformmantel fallen und zum Vorschein kam eine russische Uniform mit einem roten Stern an seiner Uniform. Jetzt kamen Panzer auf und eine Schießerei begann. Die Tochter Lieselotte erlitt hierbei eine Verwundung am linken Oberarm und fiel in einen Graben zwischen vielen Toten. Lieselotte hat dann später die Ereignisse in der Familienbibel[19] festgehalten hat. Es ist bisher das einzige Dokument dieser Tragödie. Hierzu wird von der Familie Kirschnick/Will geschrieben:
Die ganze
Flucht über und auch viele Jahre später hat diese Bibel der ganzen Familie
Hoffnung gegeben, recht schnell nach Deutschland zu kommen. Am 28. Juli 1958
wurde dann der große Traum von Gertrud Kirschnick mit ihren Kindern wahr. Die
Bibel und auch das Deutsche Stammbuch sind die einzigen Dokumente, die in den
Westen mitgenommen werden konnten.
Gertrud Kirschnick fand mit ihren Kindern zunächst in einem Dorf bei Grünhagen in einem beschädigen Haus notdürftig Unterkunft. Mit dabei waren noch 3 weitere Kinder ihrer besten Freundin, die bei dem Beschuss tödlich getroffen wurde. Gertrud Kirschnick musste zusammen mit anderen Frauen Tote bergen und begraben. Im Juli 1945 kehrte die Familie nach Osterode zurück.
Frau Gertruda Otulak, geb.
Scheffler aus Pulfnick, Frau Anna Badziong aus Osterode und Rosemarie Trazka,
geb. Saborrosch aus Hohenstein berichten sogar von Russen in deutschen
Uniformen. Georg Loyal aus Schlappacken und Edith Mischok, geb. Labenski aus
Osterode, beschreiben fast übereinstimmend eine der vielen Tragödien. Ein Junge
in HJ-Uniform war beim Zusammenstoß mit beiden Beinen eingeklemmt und konnte
sich aus seiner verzweifelten Lage nicht befreien. Der Versuch eines Mannes,
den Jungen mit Werkzeug zu helfen, wurde durch einen russischen Soldaten mit
entsicherter Maschinenpistole und entsprechenden Drohgebärden verhindert.
Niemand traute sich, dem Jungen erneut zu helfen, so dass dieser schließlich
verblutete.
Die Brüder Wolfgang (*1936), Reinhold (*1937), Horst (*1939) und Jürgen (*1943) Lüttke haben im April 2006 ausführliche Berichte über die Flucht ihrer Familie vom Januar 1945 bis zur zwangsweisen Ausweisung im Herbst 1945 geschrieben, aus denen die nachstehenden Sätze entnommen sind:
Unser Vater
Gustav Lüttke arbeitete bei der Reichsbahn auf dem Griesliener Bahnhof bei
Allenstein, und wir wohnten im Wohnhaus des Bahnhofes, in dem noch eine
Eisenbahnerfamilie wohnte. Dem Vater war es verboten, uns zur Flucht auf
die Bahn zu setzen und so sind wir, viel zu spät auf einem Anhänger eines
Treckers, der Landmaschinen geladen hatte, weggefahren, während der Vater auf
seinem Posten bleiben musste. In Mohrungen hielten wir in einem Knäuel von
Pferdewagen, wo bereits links der Straße 2 Häuser brannten. Dort endete die
Treckerfahrt für uns und es hieß, es stünde ein Zug bereit, um Flüchtlinge
aufzunehmen. Unsere Mutter, die schwanger war, kam wohl ziemlich spät mit uns
zu dem Güterzug und so landeten wir in einem Waggon ziemlich weit hinten.
...... Plötzlich gab es
einen Ruck, den Reinhold nicht als heftig in Erinnerung hat. Beim
Runterspringen aus dem Zug geriet der kleine Jürgen, der erst 2 Jahre alt war,
unter den Schnee und rutschte unter der Schneedecke den Bahndamm hinab.
Wir buddelten ihn in der Dunkelheit aus und sahen seine schreckgeweiteten
Augen.
...... Wir kamen am Bahnhof an und standen dort mit vielen Leuten. Es war noch dunkel. Dann wurde es langsam hell. Plötzlich ein lauter Knall. Wenig später sahen wir einen Panzer auf der Parallel zu den Schienen verlaufenden Chaussee auftauchen. Dass das schon ein russischer Panzer war, dachte wohl kaum einer. Dann tauchten hinter dem ersten Panzer noch mehrere auf, und ungefähr auf unserer Höhe richteten sie die Kanonen in unsere Richtung und begannen in die wartenden Menschen zu schießen. Wir liefen zu einem Graben neben den Gleisen. Weil wir so langsam waren, sprangen wir auf andere Menschen, die schon im Graben waren. Die Splitter zertrennten die Leitungen, die entlang des Grabens an den Telegrafenmasten waren. Die Leitungsenden schwangen herab. Eine dicke Frau kam auf unseren Graben zugelaufen. Plötzlich war die weg und dunkler Rauch und Dreck flogen umher. Die dicke Frau lag hinter uns auf dem Rücken. Der Bauch sah aus wie geplatzt. Der Mantel war offen und die Därme quollen heraus. Etwas war Reinhold ins Gesicht geklatscht. Er fühlte mit seiner Hand etwas Nasses, seine Hand war rot. Irgendwie kamen wir aus dem Graben und gingen dann in Richtung Bahnhofsgebäude. Überall lagen tote Frauen und Kinder.
. ..... Ganz in der Nähe kamen wir
zum Hof der Familie Schneider, auf dem noch andere Flüchtlinge waren. Der Herr
Schneider, der nicht verraten wollte, wo sich seine Tochter versteckte, wurde
wohl verschleppt oder umgebracht. Das Leben auf dem Hof war einerseits
schrecklich, andererseits spannend, weil wir Kinder frei waren.
...... Als es wärmer wurde,
quollen die Leichen auf. Die kleinen Babys waren ganz schwarz Am Anfang, im
Januar hatten einige Frauen Stücke
Fleisch aus den toten Pferden geschnitten, die überall links und rechts der
Straße lagen.
Im Juli ging die Mutter zur Entbindung nach Preußisch-Holland, wo noch deutsche Ärzte und Schwestern tätig waren. Der dort geborene Bruder ist im September gestorben, höchstwahrscheinlich an Unterernährung. Wolfgang, der älteste von den Brüdern, ist auf Veranlassung der Mutter zu Fuß zurück nach Grieslienen, um dort nachzusehen, ob der Vater noch da wäre und ob man dorthin wieder zurück könne. Mit einem kleinen Bollerwagen, den er noch auf dem Boden der Eltern fand, kam er wohlbehalten wieder zurück. Aber das ist eine andere Geschichte.
Gerhard Neckritz aus Mohrungen, Abbau, schreibt im Mai 2007, dass er als 14jähriger zusammen mit seiner Mutter und 4 Geschwistern auf dem Bahnhof Mohrungen in den Zug eingestiegen sei. Die Abfahrt des Zuges verzögerte sich und erst gegen Abend setzte der Zug sich in Bewegung. Im Bestendorfer Wald wurde der Zug mit leichten Waffen beschossen. Er schreibt weiter:
In
der frühen Morgendämmerung am 23 Januar fuhren russische Panzer mit
Infanteriesoldaten besetzt, auf uns zu. Zuerst zerschossen sie mit
Panzergranaten die Oberleitungen des Bahnhofs Grünhagen. Einige Granaten
schlugen auch in die auf den Bahnsteigen wartende Menschenmenge ein, es kam zur
Panik. Viele flohen aus Angst Richtung Wald über freies Feld. Hier schossen die
Russen in die Flüchtlinge mit MGs und Granaten. Es gab viele Tote, die im
freien Feld und Bahnhof lagen. Mein 9jähriger Bruder Alfred floh auch mit den Menschen
Richtung Wald. Nach 6 Monaten haben wir meinen Bruder wieder gefunden.
Wir sind dann nach dem „Drama“, zu Fuß zurück nach Mohrungen. Im Oktober 1945
wurden wir von den Polen vertrieben.
.Aus diesem Inferno ist es nur ganz wenigen gelungen, sich zu den deutschen Linien durchzuschlagen. Hierzu gehörte Ruth Kretschmer, geb. Watschke, aus Mohrungen, die mit ihrer Mutter eine Richtung einschlugen, die vom Gefechtslärm wegführte und sie so zu versprengten deutschen Soldaten gelangten. Von Schlobitten ging es dann mit dem Zug über Königsberg nach Pillau und von dort mit dem Dampfer „UBENA“ über die Ostsee nach Kiel. Andere wieder sind wegen mangelnder Ortskenntnisse im Kreis gelaufen, so Luise Scheffler, geb. Hippler, aus Pulfnick mit ihren 5 Kindern, die auf dem Hof des Bauern Zimbehl in der Nähe des Bahnhofs Unterkunft für einige Jahre fanden. Die Tochter Gertrud, verheiratete Otulak, berichtet, dass auf Anordnung der russischen Militärs Brigaden mit Schaufeln die Toten in zwei bis drei Massengräbern links und rechts des Bahndamms verscharrt haben. Es durften keine Grabhügel aufgeworfen werden. Im Frühjahr 1946 waren die Massengräber an dem besonderen Grün deutlich zu erkennen.
Einige der Flüchtlinge trauten nicht den Versprechungen auf Hilfe und Entlastungszüge, sondern begaben sich von der Angst getrieben, zu Fuß in Richtung Preußisch-Holland. Hierzu gehörten die Eheleute Otto und Gertrud Baltutt aus der Sendenhauptstraße in Osterode mit ihren 4 Kindern im Alter von 4 bis 9 Jahren. Die Tochter Edith, verheiratete Mundell und jetzt in USA lebend, erinnert sich in einem mehrseitigen Bericht, dass die Eltern die beiden jüngsten Töchter im Schlitten in Decken gehüllt hinter sich herzogen und der Vater immer dann nach den Kindern auf den Schlitten schaute, wenn das Weinen und Jammern aufhörte und es dort sehr still wurde. Sie schreibt u.a.:
Mein Vater trieb uns an, zu laufen und nicht
stehen zu bleiben. Das Donnern schien näher zu kommen, aber weit und breit
nichts als Wald, kein Haus und kein Licht. Es waren nur wenige Menschen in
unserer Nähe. Einigen davon mußten meine Eltern wieder hoch helfen, da diese
vor Erschöpfung umfielen. Endlich sahen wir ein Licht in einem Bauernhaus. Das
Haus war voller Menschen, aber wir fanden noch etwas Platz, um eine kurze Rast
zu machen und um uns zu erwärmen. Mein Vater drängte, weiter zu laufen, so
erreichten wir den Stadtrand von Preußisch-Holland. Elbing stand in Flammen.
Das Donnern der Kanonen wurde lauter und kam näher. Wir mußten von der Straße
und suchten im ersten Haus Unterkunft. Da niemand antwortete, brach mein Vater
das Glas der Haustür, um diese von innen zu öffnen. Wir waren in dem Haus eines
Schornsteinfegermeisters, die Betten waren noch warm. Die Bewohner mußten
demnach kurz vorher aus dem Haus geflohen ein. Ein Dach über dem Kopf zu haben,
wirkte für uns Kinder beruhigend und gab uns Sicherheit. Aber es dauerte nicht
lange und die Russen waren plötzlich mit einem Panzer neben dem Haus, in dem
wir Obdach gesucht hatten. Es war der 23. Januar 1945.
Meine Mutter wagte es, aus der Tür zu schauen. Sie sah, wie Frauen
weiße Tücher schwenkten. Einige Minuten später flog die Tür auf und russische
Soldaten, eine Mongolenrasse mit gelber Hautfarbe und aufgepflanztem Bajonett
schob uns alle vor die Wand und kommandierte „Hände Hoch“. Einige liefen ins
Obergeschoss, während der Rest die Bajonette auf uns hielt. Wir beteten unser
letztes Vaterunser. Oben hausierten die Mongolen, in dem sie alles
durchwühlten, zerstachen, ausschütteten und umstülpten. Zu unserem Glück im Unglück
kam eine andere Gruppe von Russen ins Haus. Es waren Offiziere, die zuerst auf
uns Kinder zukamen und sagten „malenkie“ ( Kleine).
Die Offiziere richteten in dem Haus eine Feldküche ein und Mutter Baltutt musste für die russischen Soldaten kochen. Als diese Truppe nach mehreren Tagen abzog, bekam auch die Familie Baltutt die Schrecken des Krieges zu spüren. Der Vater wurde zu Aufräumungs-arbeiten herangezogen und wurde seitdem nie wieder gesehen. Die Mutter wurde zur Zwangsarbeit in den Ural verschleppt. Die Kinder kamen nach 6 Monaten mit einem Kindertransport der Polen in ein Berliner Waisenhaus. Nur die Mutter kam nach 4 Jahren Gefangenschaft aus dem Ural zurück. Durch Vermittlung des Roten Kreuzes fand Mutter Baltutt ihre Kinder wieder.
Großes Glück hatte dagegen die Familie Schidlowski aus Mohrungen. Die Tochter Elfriede (*1925), verheiratete Dersein, berichtet, dass es ihrer couragierten Mutter gelungen sei, den zuständigen Stabsarzt für den auf dem Bahnhof in Mohrungen abseits stehenden Lazarettzug zu bewegen, die Familie mitzunehmen. Frau Dersein schreibt dazu am 10.12.2005:
Als am
22. Januar abends schon das Dröhnen der russischen Artillerie zu hören war,
fuhren beide Züge raus, der Lazarettzug und der Flüchtlingszug. Der Bahnhof in Mohrungen war voller
Menschen. Die Verwundeten aus der Handelsschule etc. wurden eingeladen. Wir, meine Mutter, Bruder und ich konnten
mitfahren. Nach ca. einer ¾ Stunde gab es einen Knall bzw. großen Ruck. Und der
Flüchtlingszug war auf den Lazarettzug aufgefahren. Die begleitenden Soldaten
sind sofort mit ihren Gewehren raus, wir haben sie nicht wieder gesehen. Der
Lazarettzug wurde zur Hälfte abgehängt. Die Verwundeten wurden zu zweit in die
Betten gelegt; alle anderen Flüchtlinge sollten laufen, aber mein Bruder und
ich wollten doch unsere Mutter nicht alleine lassen.
Frau Dersein schreibt weiter, dass der Lazarettzug mit den noch fahrtüchtigen Waggons 5 Tage bis Frankfurt/Oder benötigte. Die Verwundeten sollten dort in ein Lazarett gebracht werden, während die mitgenommenen Flüchtlinge in einen ungeheizten Zug umsteigen mußten, der die Familie Schidlowski über Berlin bis nach Blumenthal in die Mark Brandenburg brachte.
Das Schießen der Russen hörte erst auf, nach dem weiße Taschentücher geschwenkt wurden. Die darauf erschienen Russen riefen „Chadi damoi“ und verlangten Uhren und Schmuck. Die auf dem Bahnhof verbliebenen Menschen setzten sich langsam mit erhobenen Händen in Bewegung. Klaus Silz aus Buchwalde berichtet, dass die Russen den deutschen Soldaten, zu denen auch sein Vater gehörte, die Schulterstücke abgerissen und gefangengenommen haben. Es ist bisher nicht bekannt, was aus diesen Gefangenen geworden ist.
Zusammenfassung
Betroffen vom Zugunglück in Grünhagen waren vorwiegend Flüchtlinge aus den Kreisen Osterode, Neidenburg und Mohrungen. Verstopfte Straßen, das schnelle Vorrücken der russischen Truppen sowie das Beschießen der Fluchtwege veranlassten viele Flüchtlinge, ihre Trecks stehenzulassen, sie versuchten mit den Flüchtlingszügen in den Westen oder zu einem der Ostseehäfen zu gelangen. So auch die Familie Loyal aus dem Kreis Gumbinnen in Mohrungen[20], die Familien Schönsee aus Osterwein, Saborrosch aus Hohenstein und Wienczkowski aus Locken. Aber nicht alle hatten das große Glück, in einem der letzten Züge mitgenommen zu werden. Eine nicht zu schätzende Zahl verzweifelter Menschen blieb auf den Bahnhöfen zurück.
Nach diesen Berichten ergibt sich, dass durch den Auffahrunfall die erhoffte Rettung für die in den folgenden Zügen befindlichen Menschen vorzeitig endete:
1.) Lazarettzug aus Mohrungen, der mit den vorderen noch fahrbar gebliebenen Waggons und der intakten Lok noch vor der Einschließung Ostpreußens die Weichselbrücke bei Dirschau überqueren konnte
2.) Unglückszug aus dem Raum Osterode/Allenstein;
3.) Zug aus Richtung Maldeuten, der noch rechtzeitig vor dem Unglückszug zum Halten gebracht werden konnte;
4.) Zug aus Miswalde, der wegen Blockierung der Eisenbahnstrecke durch den Unfall bei Maldeuten stehen bleiben musste.
Ergänzend wird noch von einem Eisenbahnunfall vor Elbing berichtet, und zwar von Edelgard Bruns, geb. Balla, Hannelore Meier, geb. Pajonzek und Oswald Liedke, alle sind aus Osterode und über Elbing in den Westen gelangt.
Zum Eisenbahnunfall bei Güldenboden vor Elbing schreibt Prof. Dr. –Ing. Wolfgang Beyer:
Meine Eltern Frieda und
Albert Beyer, meine Schwester Jutta und ich als fast 10jähriger verließen am
20.01.1945 nachmittags Hals über Kopf mit dem Treck unser Dorf Röschken. Nach
großen Strapazen (ich hatte u.a. Erfrierungen an Händen und Füßen) schafften
wir es, nach 2 Tagen, bis zum Bahnhof Güldenboden kurz vor Elbing zu kommen.
Dort stand ein Lazarettzug (Güterwagen) mit schwer verwundeten klagenden
deutschen Soldaten, die uns um Hilfe anflehten. Der Zug war wohl beschossen
worden und konnte nicht weiter. Auf die bereits abgehängte abfahrbereite
Lokomotive kletterte ich als Junge einfach rauf, wurde aber von meiner Mutter
zurückgezogen, weil wir darauf nicht alle Platz gehabt hätten und weil der
Lokführer das auch nicht wollte. Die Lok fuhr ohne uns los; später stand sie
ausgebrannt etwa 2 km entfernt auf freier Strecke; Sie war von den
herannahenden sowjetischen Panzern zerschossen worden.
Ausblick
Aber es bleiben noch einige Fragen offen, denn kein Journalist und kein Fotoreporter war dabei. Keine Zeitung und kein Rundfunk berichtete über diese Flüchtlingstragödie. Kein örtlicher Hinweis, kein Kreuz und kein Denkmal erinnern an die vielen toten Zivilisten und Soldaten, die im Frühjahr 1945 beiderseits des Bahndamms bei Grünhagen in Massengräbern verscharrt wurden.
Grünhagen erhielt im Rahmen der Westverschiebung Polens im Sommer 1945 völlig neue polnische Bewohner aus Wolhynien, die auch vertrieben wurden und denen und deren Nachkommen Grünhagen (jetzt: Zielonka Paslecka) zur neuen Heimat geworden ist. Inzwischen kommen sich Deutsche und Polen immer mehr persönlich näher. Grundlage für Versöhnung und für ein künftiges Miteinander. So wurde in Grünhagen am 24. Juni 2001 im Rahmen einer Heiligen Messe eine in der Dorfkirche angebrachte Gedenktafel aus schwarzem Granit enthüllt. Die Gravur ist weißgrau, der Text lautet in deutscher und polnischer Sprache:
Im Gedenken
an die Menschen des Kirchspiels
Grünhagen 1300 -
1945
Dorfgemeinschaft Grünhagen im Jahre 2001
Zu diesem feierlichen Gottesdienst waren auf Einladung des dortigen Pfarrers Drezek 29 ehemalige Bewohner Grünhagens angereist.[21]
Abschließend möchte ich mich der Aussage von Manfred A. H. Hahn, der 1932 in Grünhagen geboren wurde und nach vergeblicher Flucht noch bis 1947 in Talpitten bei Grünhagen gelebt hat, anschließen: :
Lassen wir die Toten ruhen und halten wir die Erinnerung wach an sie
und diese Zeit. Sorgen wir, dass unseren Kindern und Enkeln solches erspart
bleibt.
Der Bahnhof Grünhagen im September 2002
Ganz links war vor Kriegsende ein zweites Gleis. Heute wird dort Gemüse angebaut.
Das rechte Haus enthielt 4 Wohnungen für das Bahnpersonal. Die hinteren flache Gebäude war das eigentliche Bahnhofsgebäude mit Fahrkartenschalter und Warteraum. Der Bahnhof lag außerhalb des Dorfes Grünhagen, Entfernung ca. 1,5 km.
Der Russeneinbruch war nicht am 22., sondern am 23. Januar 1945[22]
Der Lazarettzug wurde in Danzig eingesetzt, um das im Oktober 1944 von
Gumbinnen nach Mohrungen verlegte Lazarett zu evakuieren. Im Bahnhof Grünhagen
kam es dann zum Auffahrunfall, die nicht mehr fahrbaren Waggons wurden
abgehängt und die Verwundeten umgeladen. Wegen Platzmangel mußten vielfach zwei
Verwundete in einem Bett liegen. Auch wurden Flüchtlinge mitgenommen. Der Zug
war überfüllt und überladen und konnte daher nur langsam fahren. Unterwegs
mußten zur Entlastung jüngere Zivilisten aussteigen. Es gab
Tieffliegerbeschuss, obwohl der Zug als Lazarettzug gekennzeichnet war. In
Danzig wechselte das Zugpersonal. Ziel des weiterfahrenden Lazarettzuges soll
ein Lazarett in Frankfurt/Oder gewesen sein.
Details –Berichte der Augenzeugen- ergeben sich aus der demnächst
erscheinenden neuen Version dieser Dokumentation.
Am 31. Mai 2008 wurden aufgrund einer privaten Spende am ehemaligen Personalgebäude des Bahnhofs zwei Gedenktafeln aus Metall, davon eine in deutscher und eine in polnischer Sprache, angebracht. In einer bewusst klein gehaltenen Feierstunde wurden diese Tafeln durch den Vorsitzenden der Kreisgemeinschaft Mohrungen eingeweiht und vom katholischen Pfarrer aus Grünhagen (Zielonka Paslecka) gesegnet. Die Inschrift auf deutsch lautet:
Auf diesem Bahnhof, der bis
1945 „Grünhagen“ hieß und jetzt
„Zielonka Paslecka“ heißt,
verunglückte in der Nacht vom 22. zum 23.01.1945
ein aus Osterode/Mohrungen
(jetzt Ostroda/Morag) kommender Flüchtlingszug
durch einen Zusammenstoß[23]
mit einem hier stehenden Zug.
Bei den Flüchtlingen,
überwiegend Frauen, Kinder und Alte, gab es viele Opfer.
Im Morgengrauen dieses Tages
nahmen sowjetische Panzer den Bahnhof
ohne Gegenwehr ein und
feuerten mit Panzergranaten und Maschinengewehren
auf die dortigen auch in Panik
fliehenden Menschen. Wieder gab es viele Opfer.
Mit dem Reiseservice Bittermann war ich im August dieses Jahres in Ilawa/Deutsch-Eylau. Anlässlich eines Ausfluges haben beide Busse einen kurzen Halt am Bahnhof Grünhagen eingelegt, so dass die Reiseteilnehmer die Tafeln ansehen konnten und auch von mir eine Kurzinformation erhielten.
Es wäre wünschenswert, wenn Bilder, Dokumente oder auch neue Erkenntnisse, die im Zusammenhang mit der Flüchtlingstragödie oder dieser Zeit stehen, für diese Dokumentation zur Verfügung gestellt werden könnten.
Heinz Timmreck
Schwalbenweg 7, D-32107 Bad Salzuflen,
Email: mail@heinz-timmreck.de - Telefon: 05222 7403 – Fax: 032 121 237 402
http://www.heinz-timmreck.de
[1] OZ Nr. 96/November 2001 und Nr. 99/Mai 2003.
[2] Lt. Bericht Oberkommando der Wehrmacht ( OKW)
[3] Ost-Dok. 2 Nr. 31, Seite 1ff, Bundesarchiv Bayreuth
[4] Ost-Dok. 1 Nr. 38, Seite 255, Bundesarchiv Bayreuth
[5] Ost-Dok. 2
Nr. 35, Seite 1ff.
[6] RAW= Reichsbahnausbesserungswerk
[7] Osteroder Zeitung, Nr. 35, Seite 335 ff, Dezember 1971
[8] Ost-Dok. 1 Nr., 38, Seite 149 ff, Bundesarchiv
Bayreuth
[9] Nachrichten der Dorf- und Kirchspielgemeinschaft
Grünhagen, Nr. 38/1999
[10] Ost-Dok. 1 Nr. 38, Seite 255ff, Bundesarchiv Bayreuth. Der Name (Unterschrift) ist nicht voll lesbar.
[11] Grünhagen, Chronik-Geschichte-Dokumentation, Georg Schneider, 1995
[12] Ost-Dok. 1 Nr. 38, Seite 255ff, Bundesarchiv Bayreuth
[13] Edith Mischok hat von 4000 Flüchtlingen auf dem Bahnhof gehört und Erwin Kreft gibt aufgrund von Schätzungen deutscher Soldaten die Anzahl mit 5000 an. Wenn man jedoch von den beförderten Menschen lt. Ernst Braun (siehe Seite 3) ausgeht, dann müssten in dem Unglückszug sowie den beiden vor Grünhagen und Maldeuten stehengebliebenen Zügen ca. 7500 Menschen gewesen sein.
[15] In der Chronik Grünhagen steht Margarete, richtig ist aber lt. Manfred A. H. Hahn: „Emilie“
[16] Eine Zusammenfassung der Söhne Konrad und Martin ist im „Insterburger Heimatbrief“ erschienen, und zwar Ausgaben Juli/August und Sept/Okt. 2005
[17] Der vollständige Bericht ist im Archiv der Kreisgemeinschaft Mohrungen und beim Schriftsteller Walter Kempowski hinterlegt.
[18] Emil Kirschnick fiel als Soldat 1945 bei Bialystock..
[19] Preußische Haupt-Bibelgesellschaft, Stettin 1901. Druck: R. Graßmann. Diese Bibel erhielten Emil Kirschnick und Gertrud Frenzel zu ihrer Trauung am 5. Oktober 1930 in der Ev. Kirche in Osterode.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Familien Kirschnick/Will.
Siehe hierzu die Ablichtung aus der OZ am Schluss dieser Dokumentation.
[20] Drama von
Grünhagen, der lange Weg von Schlappacken in eine neue Heimat. Georg Loyal, Mai 1997
[21] Nachrichten der Dorf- und Kirchspielgemeinschaft
Grünhagen, Nr. 45/2001
[22] Foto aus „Osteroder Zeitung“ Nr. 85, Seite 429, Mai 1996
[23] Es war kein Zusammenstoß,
sondern der Flüchtlingszug ist auf einen haltenden Lazarettzug aufgefahren.