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Ergänzung zur Dokumentation:

 

"Die Flüchtlingstragödie am 22. und 23. Januar 1945 bei Grünhagen im Kreis Preußisch-Holland in Ostpreußen"

 

Augenzeugenbericht von Frau Anna Badziong, Kassel (Osterode/Ostpr.)

 

Aufgeschrieben von Heinz Timmreck

 

Am Sonntag, dem 21. Januar 1945 abends bin ich mit meiner Familie auf dem Bahnhof in Osterode in einen Güterzug eingestiegen. Ich war damals 19 Jahre alt. Dieser mit Flüchtlingen voll besetzte Zug war wegen der ständig näher rückenden Front erst am Montag, dem 22. Januar 1945, in Mohrungen angekommen, wo er mehrere Stunden stand. In Mohrungen bin ich die Gleise entlang gegangen, um nach einem anderen Zug zu suchen. Hierbei habe ich auf einem Abstellgleis einen offenen Güterwagen gesehen, in dem einige erfrorene ältere Menschen lagen. Als der Flüchtlingszug dann endlich in der Abenddämmerung abfuhr, hat er auf der Fahrt bis Grünhagen mehrmals wegen Feindeinwirkung rangieren und auch halten müssen.

 

In Grünhagen fuhr unser Zug auf einen haltenden Lazarettzug. Es gab viele Tote und Verletzte. Die letzten Waggons des Lazarettzuges und die ersten Waggons unseres Zuges hatten sich ineinander verkeilt und waren zusammengeschoben. Nach dem Zusammenstoß habe ich mit meiner Familie auf dem Bahnhof auf einen Entlastungszug gewartet. Männer vom Volkssturm versuchten telefonisch einen Zug für die Weiterfahrt der Flüchtlinge zu bekommen, aber die Leitungen waren bereits unterbrochen. Im Morgengrauen, es war etwas neblig/dunstig, habe ich 2 Panzer kommen sehen, die sich trennten und dann von zwei Seiten auf den Bahnhof zufuhren. Bei dem aus Richtung Preußisch-Holland kommenden Panzer habe ich 2 russische Soldaten in deutschen Uniformen gesehen. Alle wartenden Menschen glaubten, daß es sich um deutsche Panzer handeln würde. Doch dann war es deutlich zu erkennen, daß es sich um russische Panzer handelte und hinter den Panzern russische Soldaten mit Gewehren und Maschinengewehren liefen.

 

Die Russen schossen auf die wartenden Menschen und auf die in den Güterwagen befindlichen Flüchtlinge. Die Menschen, die in den Waggons Schutz gesucht hatten oder dort ausharrten, waren gegenüber den hinter dem Bahndamm in Deckung gegangenen Menschen, viel schlechter dran. Ich selbst bin am linken Arm und den Fingern verwundet worden und erhielt in der linken Brust einen Splitter, der heute noch dort sitzt. Da ich zusätzlich hohes Fieber bekam, hat man mit meinem Überleben gar nicht gerechnet. Meine Mutter erhielt einen Bauchschuß und starb nach 2 Tagen. Meine zwei Brüder und eine Schwester waren sofort tot, nur meine jüngste 14jährige Schwester hat bei der Schießerei nichts abbekommen. Besonders tragisch, wenn man bedenkt, daß mein Vater 3 Monate vorher verstorben war und zwei ältere Brüder gefallen waren.

 

Die Verwundeten wurden von einer damals 42jährigen Krankenschwester namens Kaminski im Bahnhof unter primitiven Verhältnissen notdürftig versorgt. Hierzu wurden Leinenlaken zerrissen und als Binden verwendet. Die leicht Verwundeten suchten sich eine Bleibe bzw. gingen zu ihren Angehörigen, während die Schwerverwundeten im Bahnhofsgebäude verblieben. Eine weitere Lazarettschwester in Tracht (Nonne oder Diakonisse) wurde von einem Panzer angefahren und verstarb 2 Tage später. Das Bahnhofsgebäude bestand aus 3 Räumen, dem Stellwerk, dem Dienstraum/Fahrkartenschalter und dem Warteraum. Daneben standen 2 Wohnhäuser für das Bahnhofspersonal. Alle Räume waren überbelegt.

Durchziehende Russen haben sich unterschiedlich benommen. So mußten bei russischen Kontrollen die Verbände abgemacht werden, weil man die Verwundungen anzweifelte. Die Versorgung mit Nahrung war schwierig. Vorübergehend hat man sich mit Käse aus der in unmittelbarer Nähe befindlicher Molkerei geholfen. Eine 71jährige Frau hat versucht, die vielen Verletzten und Verwundeten mit Nahrung zu versorgen. Im Bahnhofsgebäude hat eine am Fuß verletzte junge Frau ein Baby geboren. Elternlose Kinder sind von Verwandten oder anderen Familien aufgenommen worden. Das Gebäude wurde eine Woche von den russischen Soldaten streng bewacht. Niemand konnte das Gebäude in dieser Zeit verlassen. Als ich wieder einigermaßen laufen konnte, bin ich im Mai zurück nach Osterode gegangen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich noch 20 Verletzte im Bahnhofsgebäude.

 

Am schlimmsten haben sich die Kossaken benommen. Betrunkene Russen haben mit dem Kolben auf die in den Bahnhofsgebäuden befindlichen Menschen eingeschlagen und sogar geschossen. Russische Offiziere haben die Betrunkenen mitgenommen und sich nach der Versorgung mit Lebensmitteln erkundigt. Gelegentlich hat man von den Russen auch etwas zu essen bekommen. Meine 14jährige Schwester konnte ich mit viel Mühe vor einem Abtransport nach Rußland bewahren.

 

Als es wärmer wurde, die Erde war noch etwas leicht gefroren, mußten ältere deutsche Männer auf Anweisung der Russen ein langes Grab einige Meter vom Stellwerk am Rande des Ackerlandes ausschaufeln. Das Grab war nicht sehr tief. Hier kamen die Toten aus dem Lazarettzug, des verunglückten Flüchtlingszuges sowie aus der Beschießung durch die Russen hinein. Die genaue Zahl ist ihr nicht bekannt. Auf jeden Fall waren es mehr als 150 Tote. Ausweise und Erkennungsmarken wurden den Männern von den Russen abgenommen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Stellwerkes und der Gleise ist ebenfalls ein Massengrab angelegt worden. Das habe ich aber selbst vom meinem Krankenlager nicht sehen können. Auf den benachbarten Höfen haben sich viele verletzte und verwundete Flüchtlinge mit ihren Familien aufgehalten. Auch hier gab es Tote, die in den Gärten begraben wurden.

 

Da sich meine Wunden verschlimmerten, bin ich von Osterode aus zur Behandlung in einer Krankenstation, die im ev. Gemeindehaus in Deutsch-Eylau eingerichtet war, für eine Woche gewesen und von dort in die Krankenstation einer Kaserne in Deutsch-Eylau (Roter Backsteinbau) verlegt worden. Diese Kaserne wurde auch als ein Gefangenenlager genutzt. Die deutschen Ärzte, welche von den Russen gut behandelt wurden, konnten im Beisein von Russen die Gefangenen nur notdürftig versorgen. Die Verwundeten lagen auf Stroh, waren am Schreien und Wimmern. Jeden Tag wurden hier Tote herausgetragen. Es gab auch Typhuskranke. Von hier aus wurden Gefangenentransporte für Rußland zusammengestellt.

 

Nach meiner Genesung habe ich zunächst in einem Sägewerk, dann auf dem Bau und zuletzt im ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerk in Osterode gearbeitet. Nach wiederholten Versuchen konnte ich endlich im Jahre 1960 in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen.

 

 

Bad Salzuflen/Kassel, im September 2003

 

 

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